Pressestimmen WER HAT MEINEN VATER UMGEBRACHT / DAS ENDE VON EDDY

Winnie Geipert, Strandgut (02/2022)
“Proletarisches Doppel
Freies Schauspiel Ensemble: Bettina Kaminski inszeniert »Wer hat meinen Vater umgebracht/Das Ende von Eddy« von Edouard Louis
Rosa Luxemburg, der haben sie’s versprochen, möchte man in Anlehnung eines alten Marsches der Arbeiterbewegung sagen: Das neue Stück des Freien Schauspiel Ensembles passt so gut in die Geschichte des Bockenheimer Theaters und seines Domizils Titania, dass man sich allenfalls fragt, wieso es erst jetzt auf den Spielplan kommt. Wenn wir es recht sehen, dann ist es zumindest die erste Bühne in Frankfurt die die »non-fiktionalen« Arbeiten der jungeren französischen Literatur dramatisiert, für die neben Didier Eribons
»Rückkehr nach Reims« (2016) auch der hier gewähite Éduard Louis steht. Beide behandeln auf biografischer Basis die Milieus, in denen sie unter schwierigen Umständen aufgewachsen – und denen sie erfolgreich entflohen sind im kritischen Rückblick: die von Rassismus, Homophobie, Fremden- und Frauenfeindlichkeit durchdrungene französische Arbeiterklasse im Lichte einer sich dem Wirtschaftsliberalismus ausliefernden Politik. Beide beschreiben zugleich den Prozess einer sehr persönlichen Läuterung. Wobei Louis in seinem ihn mit einem Schlag berühmt machenden Essay »Wer hat meinen Vater um gebracht« (2019) die Problematik der sozialen Verwerfungen sehr viel zeitnäher, direkter und vor allem ohne Fragezeichen diskutiert. er seinem Vater physisch und psychisch so zugrunde gerichtet hat, steht für ihn fest: die von Giscard, über Sarkozy bis zu Macron reichende Politelite.In ihrer fünften Regiearbeit für das FSE-Theater verbindet Bettina Kaminski die Vater-Schrift von Éduand Louis mit seinem bereits vier lahre vorher erschienen Roman-Debüt »Das Ende von Eddy», ein nicht minder subjektives, aber literarisches Eintauchen in die Kindheit. Was hier eher zwischen den Zeilen stehe, werde als politische Position formuliert, meint die Regisseurin in einer Interview-Einführung auf der Homepage der Gruppe über ein Thema das sich ganz und gar nicht auf Frankreich beschränkt. »Es ist nicht mehr die Solidargemeinschaft, die Schwächere (…) unterstützt und Verantwortung übernimmt. Sondern einzelne sind selbst Schuld, keine Arbeit zu finden, krank zu werden etc.«
Mit den Schauspielern Axel Gottschick und Yves Pancera, die zwei Generationen, aber eine Person vertreten, wird die Bühnenfassung nun umgesetzt. Und mit einem Live-Schlagzeuger, Günter Bozem, am idealen Instrument, Kaminski: »Das Ineinandergreifen von Mensch und Maschine. Schlagzeug hat etwas mit Arbeit zu tun (…, und) die Moglichkeit, die Geschichte voranzutreiben, Es gibt eine Getriebenheit zu erzählen.«”

Julian Mackenthun, Journal Frankfurt (02/2022)
“Wer hat meinen Vater umgebracht / Das Ende von Eddy
Das Freie Schauspial Ensembla inszeniert zwei Romane von Édouard Louis.
Auch diese Inszenierung könnte auf Platz 1 stehen. Denn für den Stoff von zwei Romanen findet sie eine gelungene Komprimierung und eine ganz eigene Theatersprache, Édouard Louis beschreibt in den beiden Romanen seine Diskriminierung als heranwachsender Homosexueller. Aber es geht auch um seine Selbstfindung in der Kunst, um seinen Vater-Konflikt und darum, wie er seinem Vater schließlich vergeben konnte, als er sich mit dessen Arbeiterbiografie beschäftigt hat. Bettina Kaminski Lässt in ihrer Inszenierung zwei Schauspieler diese Geschichte erzählen. Die beiden sind aber nicht Vater und Sohn. Sie sind vielmehr zwei Teile desselben Menschen. Den Text sprechen sie abwechselnd. Mal wie Schriftsteller beim Diktieren. Mal wie Patienten auf der Analysecouch. Mal wie in Selbstgespräche vertieft. Sie spielen nicht naturalistisch, Sie entwickeln Körperbilder einer Psyche. Ein Schlagzeuger interagiert derweil mit ihnen. Er setzt Akzente, baut Spannung auf oder grundiert die Handlung atmosphärisch. Damit ist die Inszenierung keine Lesung und kein bloßes In-Szene-Setzen. Sie entwickelt ihre eigene Unmittelbarkeit und Ausdrucksform, mal düster und dann wieder hoffnungsvoll. Das ist sehr gekonnt und sehr gelungen.”

Frankfurter Allgemeine Zeitung (22. Februar 2022)
“Brutale Wucht
Das Freie Schauspiel Ensemble spielt zwei autobiographische Stücke von Édouard Louis im Titania Theater Frankfurt.
Ein Schlagzeug kann nicht säuseln. Wenn die Schläge hart auf die Snare Drum treffen, dringen sie unmittelbar ins Ohr des Zuhörers, erhöhen die Herzfrequenz, erzeugen Unbehagen und Schmerz. Und machen aggressiv. Das Schlagzeug ist als Instrument ohne die Einbettung in einen melodischen oder rhythmischen Zusammenhang pure Gewalt. Und genau darum geht es hier.Denn Édouard Louis’ autobiographische Texte „Das Ende von Eddy“ und „Wer hat meinen Vater umgebracht?“ handeln von Gewalt unter den Menschen ebenso wie von der Gewalt des Staates, bei Louis unmissverständlich „die Herrschenden“ gegenüber den Besitzlosen, den Armen, den Deklassierten. Bettina Kaminski und das Freie Schauspiel Ensemble, die nun aus beiden Texten eine achtzigminütige Tour de Force geformt haben, setzen jenseits der Sprache auf die brutale Wucht der Trommelattacken, die bereits beim Betreten des Zuschauerraums im Titania Herzrasen auslösen. Günter Bozem am Schlagzeug tritt später zwar immer wieder in den Hintergrund, produziert leisere Klänge nach Art eines Hörspiels, doch seine Schläge, manchmal auch schlichtweg auf einen Metalleimer, grundieren den ganzen Abend und überbieten naturgemäß in ihrer direkten körperlichen Wirkung die Arbeit der Schauspieler.
Dringender Revolutionsbedarf
Dabei gehen auch Axel Gottschick und Ives Pancera an ihre Grenzen. Sie sprechen abwechselnd ohne Rollenzuordnung den Originaltext, tanzen dabei immer wieder, rennen auf der Bühne umher und geraten zusehends außer Atem. Das Atemlose, Stockende ihres Sprechens wird zum zweiten wirkungsvollen Stilmittel der Inszenierung: Man kann über die psychische Gewalt des Vaters und die sehr physische Brutalität der Mitschüler gegenüber dem sensiblen schwulen Jungen Eddy nicht ruhig sprechen. Was er in seiner Kindheit in einem kleinen nordfranzösischen Dorf an Demütigungen erlebt hat, mag symptomatisch für den Umgang mit einem Außenseiter in der von Männern dominierten, auf traditionelle Werte setzenden Unterschicht sein, aber hier zeigen sich die Verletzungen erschütternd an einem Einzelschicksal. Als mehrfach wiederholte emblematische Szene steht dafür der grässlich misslingende Versuch Eddys, bei einer Familienfeier durch einen Tanz den Vater zu erfreuen. Der aber flüchtet angewidert nach draußen.
Der kalte, dauerbetrunkene Macho-Vater ist ein Scheusal, aus der Perspektive des Kindes ein hassenswerter Täter. Umso bemerkenswerter, dass Louis ihn auch als ein Opfer der Lebensumstände zeigt, in die er hineingeboren wurde, ein Opfer vor allem des Abbaus des Sozialstaats nach der Jahrtausendwende. Édouard Louis argumentiert hier nicht ausgewogen, und seine Attacke auf all die namentlich genannten „neoliberalen“ Politiker von Chirac bis Macron, die er als Mörder seines Vaters ausmacht, ist konsequent schwarz-weiß. Bettina Kaminskis auf körperliche Überwältigung setzende Inszenierung will hier nicht differenzierter sein als der Originaltext und lässt die Schlussbotschaft bedrohlich im Raum stehen: „Ich glaube, was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution.”